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Die grüne Linie ist erreicht: Im 21. Jahrhundert muss erst die Ethik kommen, dann die Wirtschaft. Foto: Yabresse/stock.adobe.com

Mappe: Herr Prof. Reichel, die Zeit ist reif für eine neue Wirtschaftsform, die soziale und ökologische Aspekte in den Vordergrund stellt. Konzepte hierfür gibt es einige. Welche Wirtschaftsform halten Sie für Deutschland und Europa für sinnvoll und machbar?
André Reichel: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eigentlich in den allermeisten westeuropäischen Staaten einen Konsens über die Wirtschaftsordnung: weder ungezügelter Kapitalismus, noch autoritäre Planwirtschaft. Die Antwort, die vor allem im deutschsprachigen Raum darauf gegeben wurde, hieß: Soziale Marktwirtschaft. Ein breites Bündnis aus christ- und sozialdemokratischen wie auch liberalen Parteien hat diese Wirtschaftsordnung akzeptiert. Eine Marktwirtschaft im Dienste der Gesellschaft, mit klaren sozialen Leitplanken ist auch heute ein guter Ausgangspunkt für eine veränderte europäische Wirtschaftsordnung im 21. Jahrhundert. Klar ist dabei, dass es starke ökologische Leitplanken braucht und Wirtschaft nicht nur für den Menschen da sein muss, sondern auch einen Mehrwert für die nicht-menschliche Mitwelt stiften muss. Ebenso müssen wir uns überlegen, wo wir Markt (und damit Wettbewerb und Profitstreben) zulassen und wo wir das eher nicht wollen.
Mappe: Wie könnte eine Postwachstumsökonomie aussehen oder wie klein kann die Wachstumsrate in der deutschen Wirtschaft sein, damit dennoch ein nachhaltiger angemessener Wohlstand für alle möglich ist?
A. Reichel: In einer hochentwickelten und reichen Volkswirtschaft wie der deutschen kommt es nicht so sehr auf das Wachstum insgesamt an, sondern wo und wie dieses Wachstum eigentlich erzeugt wird – also welche schädlichen ökologischen und sozialen Nebenwirkungen es hat – sowie die Frage nach der Verteilung des Wachstums, wer also letztlich davon profitiert. Was wir über das deutsche Wachstum und seine (Nicht-) Nachhaltigkeit sagen können ist, dass wir in Deutschland deutlich über unsere ökologischen Verhältnisse leben, der ökologische Fußabdruck ist wenigstens zweieinhalbmal größer, als er eigentlich sein dürfte. Ihre Frage ist daher zweigeteilt: Wie müssen wir die deutsche Wirtschaft verändern, damit wir bei den ökologischen Schadwirkungen dramatisch herunterkommen, und was meinen wir eigentlich mit „angemessener Wohlstand“? Damit wird klar, dass die Wachstumsfrage nicht einfach nur eine wirtschaftliche oder technische Frage ist, sondern viel mehr eine kulturelle und gesellschaftliche.
Mappe: Welche Reformen unseres Wirtschaftssystems braucht es, um den Wachstumszwang auszuschalten?
A. Reichel: Da gibt es mehrere Ebenen. Die erste betrifft die Politik. Unsere Sozialversicherungen sind vollständig abhängig davon, dass die Einkommen wachsen. Das ist nicht-nachhaltig, auch und gerade dann, wenn man sich zusätzlich noch den demographischen Wandel in Deutschland vor Augen führt. Viel sinnvoller wäre es, wenn die Sozialversicherungen aus Ressourcen- und Energiesteuern sowie Vermögenssteuern finanziert würden. Umwelt wird immer verbraucht werden und die Vermögenswerte in Deutschland sind vor allem in den letzten 40 Jahren deutlich angestiegen. Das wäre eine wachstumsunabhängige Basis und würde den politisch motivierten Wachstumsdruck mildern. Für die Wirtschaft bräuchte es dann Rechtsformen, die nicht auf ein beständiges Wachstum des Gewinns verpflichten. Die aktuellen Bestrebungen zur Schaffung einer Rechtsgrundlage für die VE-GmbH (GmbH in Verantwortungseigentum) sind da sehr interessant. Auch im Wettbewerbsrecht muss sich etwas ändern. Gerhard Scherhorn hat vor vielen Jahren vorgeschlagen, negative Externalitäten, das sind Umweltschäden, für welche die Verursacher nicht aufkommen müssen, als unlauteren Wettbewerbsvorteil aufzufassen und ins UWG aufzunehmen.
Mappe: Die Sinn-Ökonomie fragt nach dem Zweck des Wirtschaftens. Wie lässt sich eine solche Wirtschaftsform in Deutschland umsetzen?
A. Reichel: Unter einer Sinn-Ökonomie versteht man eine Wirtschaft, die angetrieben wird durch das Streben des Einzelnen nach Sinn in seiner Arbeit und in seinem Leben. Das alleine hilft uns noch nicht bei der Bewältigung der ökologischen Krise. Ohne klaren normativen Rahmen kann auch die Sinn-Ökonomie unerwünschte Ergebnisse erzeugen. Im 21. Jahrhundert muss also erst die Ethik kommen, dann die Wirtschaft. So sah es übrigens auch Adam Smith, der Ur-Vater der modernen Wirtschaftswissenschaften. Die Neuerfindung der sozialen Marktwirtschaft als ökologisch-soziale Marktwirtschaft mit klarem Schutzauftrag für die natürlichen Lebensgrundlagen ist eine Vorbedingung für sinnhaftes Wirtschaften.
Mappe: Sie plädieren für wachstumsresiliente Geschäftsmodelle. Wie lässt sich das auf das Handwerk übertragen?
A. Reichel: Das Handwerk ist ja meistens sehr lokal orientiert, mit einem festen auch geografischen Geschäftsbereich und Kundenstamm. Wenn Ihr Handwerksbetrieb jedes Jahr um zehn Prozent wächst, dann sind Sie schnell kein Handwerksbetrieb mehr. Wachstum kann hier auch überfordern, weil es Sie von Ihrem eigentlichen Geschäft (der Leistung am Kunden) entfernt, Sie Ihre Mitarbeitenden nicht mehr kennen, mehr Bürokratie intern aufbauen müssen und am Ende nicht mehr das machen, was Sie mal wollten (Ihr Handwerk praktizieren), sondern nur noch am Managen von Personen sind, die wiederum andere in Ihrem Betrieb managen. Wachstumsresilienz, also die Unempfindlichkeit gegenüber Wachstumseinbrüchen, ist in der geografischen und fachlichen Nische der normalen Handwerksbetriebe viel einfacher zu erreichen als z. B. bei Großunternehmen. Ein verlässlicher Kundenstamm und konsequente Ausrichtung an der Qualität der eigenen Leistung, die behutsame Erneuerung des Leistungsangebots (z. B. um digitale Services) und ein gutes Kostenmanagement gehören bereits heute zu den entscheidenden Fähigkeiten eines Handwerksbetriebs. Von dieser Position ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Profitsuffizienz: Welcher Gewinn ist gerade noch groß genug, um den jetzigen Betrieb fortzuführen? Sobald man das herausgefunden hat, ist Wachstum keine zentrale Kategorie mehr, schon gar kein Zwang mehr. Man kann wachsen, wenn es für den Betrieb gerade passt, man muss aber nicht auf Teufel komm raus wachsen. Das ist dann wahre unternehmerische Freiheit.
Mappe: Welche Strategien und Geschäftsmodelle braucht es im Handwerk für eine nachhaltige Wirtschaft?
A. Reichel: Eigentlich hat das Handwerk alles schon parat: entschiedene Qualitätsorientierung, was die eigene Leistung angeht, daran angeschlossen die Langlebigkeit der Leistungsergebnisse (also eine Absage an jede Form von geplanter Obsoleszenz), ein Bekenntnis zum Standort der Leistungserstellung, welches auch so grundlegende Dinge wie Steuerehrlichkeit und Ausbildung von zukünftigen Handwerkern umfasst. Und den Wunsch mit der eigenen Leistung einen mess- und sehbaren ökologischen und sozialen Mehrwert zu schaffen, sei das jetzt durch die bewusste Auswahl von Materialien, durch Beratung der Kunden, durch die Entwicklung neuer, an Ökologie orientierter Leistungen oder ganz banal das Engagement vor Ort auch außerhalb des eigenen Betriebs.
Mappe: Welche Rolle spielt die Gemeinwohlökonomie im Wirtschaftswandel und in der Betriebsführung von KMU?
A. Reichel: Hier ist vor allem die Gemeinwohlbilanzierung interessant, als ganzheitliche Methode ökonomischer, ökologischer und sozialer Mehrwert- und Schadwertschöpfung. Sie bringt verborgene Stärken und Schwächen in den Blick und hilft, die eigenen Geschäftsprozesse und ihre Wirkungen auf Kunden und Gesellschaft zu hinterfragen. Dabei muss nicht jeder Handwerksbetrieb so eine Gemeinwohlbilanz erstellen, aber allein sich einmal zu überlegen, wie müsste ich den Beitrag meines Betriebs zum Gemeinwohl eigentlich messen und bewerten, kann bereits interessante Erkenntnisse liefern und Veränderungen anstoßen helfen. Hier sind letztlich auch die Handwerkskammern gefragt, eine handwerksorientierte Gemeinwohlbilanz und einfach Regeln für deren Erstellung zu definieren. Das wäre eine wichtige Hilfestellung.
Mappe: Wie sinnvoll ist ein anderer Indikator als das BIP?
A. Reichel: Was gemessen wird, wird auch gemacht bzw. gemanagt heißt es immer. Wenn wir das Falsche messen, machen wir auch das Falsche bzw. ziehen die falschen Schlüsse. Das BIP war von Anfang nicht dazu gedacht, der einzige Indikator zu sein, der alles darstellen soll, was den Wohlstand eines Landes ausmacht. Es ist aber wohl die Magie der einfachen Zahl, die hier wirkt. Deswegen braucht es dringend eine Erweiterung des BIP, sowohl von seiner eigenen Berechnung her, aber auch durch eine Reihe anderer Indikatoren. Aus dem BIP muss z. B. die ökologische Schadschöpfung herausgerechnet werden, denn viele Aktivitäten, die positiv ins BIP einfließen, zerstören unsere natürliche Mitwelt. Gleichzeitig braucht es eine bessere Bewertung aller nicht-monetären, nicht-marktlichen Tätigkeiten im sogenannten Dritten Sektor, der Zivilgesellschaft. Hier werden ehrenamtlich bzw. Leistungen ohne Entgelt getätigt, ohne die überhaupt nicht gewirtschaftet werden kann. Dazu gehören Heim- und Eigenarbeit, Gemeinschafts- und Vereinsarbeit.
Mappe: Vielen Dank für Ihre Antworten, Herr Prof. Reichel.

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