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22. Oktober 2020
Redaktion
Interview

Wohnen, leben, arbeiten nach Corona

Wird die Welt nach Corona eine andere sein? Kaum eine Frage wird gerade so häufig diskutiert wie diese. Die Mappe Redaktion sprach mit der Zukunftsforscherin Oona Horx-Strathern über die Effekte der Krise fürs Wohnen, Leben und Arbeiten.


Wohnen,
Foto: Matthias Horx
Viele neue Ideen, etwa die Kombination aus Teich und Pool, probiert die Zukunftsforscherin im eigenen Haus aus, dem »Future Evolution House« am Stadtrand von Wien.

Mappe: Frau Horx-Strathern, zunächst: Wie wird man Zukunftsforscherin?

O. Horx-Strathern: Ich habe Geografie studiert, genauer gesagt „Human Geography“. Dabei geht es um Geografie, Anthropologie und Strukturen im Zusammenleben, aber auch um Stadtplanung und Architektur. Zu meinen Interessen gehörten schon immer Kunst und Gesellschaft. Ich bin in London und sehr multikulturell aufgewachsen, bin viel gereist, habe als Journalistin und Autorin gearbeitet und viele Erfahrungen gesammelt. Dieses breit angelegte Systemdenken hat sicher zu meinem Wunsch beigetragen, mich näher mit der Thematik „Wie wir in Zukunft leben werden“ zu befassen.

Mappe: Die Corona-Krise hat viele Menschen gezwungen, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen und dabei Wohnen und Arbeiten neu zu definieren. Welche Auswirkungen wird das auf zukünftige Wohnformen haben?

O. Horx-Strathern: Die Krise stellt auf vielen Ebenen eine enorme Herausforderung für uns dar. Wir stellen vieles infrage, sind gezwungen, uns mit Dingen zu beschäftigen, die wir lange ignoriert oder unterdrückt haben. Das gilt eben auch für unsere Art zu wohnen. Viele haben in der Vergangenheit ihr Zuhause als Rückzugsort vernachlässigt. Das ist wie mit der vernachlässigten Tante, von der wir wussten, sie bräuchte mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung, aber wir fanden nie die Zeit dafür. So ist es auch mit unserem Zuhause. Man kommt von der Arbeit, schaut sich um und denkt, dass man eigentlich mal etwas daran ver­ändern müsste. Aber es ist halt mit Mühe verbunden und dann lässt man es. Doch im Moment sehen die Menschen ihre Wohnung und wie sie eingerichtet sind dauernd. Das ist eine Superchance für den Living-Bereich!

Mappe: Das heißt, wir können aus der Corona-Krise auch etwas lernen?

O. Horx-Strathern: Bei all den schrecklichen und traurigen Ereignissen hat uns Corona auch zu einem neuen Denken, zu einem Umdenken gebracht. Es hat uns Dinge bewusster gemacht, die es zwar auch schon vor Corona gab, die wir aber nicht so gesehen haben. Dazu kommt: Es ist eine Krise, die weltweit alle Menschen betrifft, also nicht nur einen anderen. Allein schon durch die Zeit, die wir im Zug der Kontaktbeschränkungen zu Hause verbracht haben oder immer noch verbringen, hat sich etwas verändert in der Beziehung zu unseren Wohnungen und dem Umfeld. Wir nehmen unsere häusliche Umgebung anders wahr. Gerade was das Wohnen, Arbeiten oder die Stadtentwicklung betrifft, lässt sich aus solchen Krisen vieles lernen: beispielsweise, was wir bei Wohnungen oder Wohnanlagen verändern und verbessern können, damit uns eine solche Situation nicht mehr so schlimm trifft bzw. dass wir andere Möglichkeiten haben, sie zu bewältigen.

Mappe: Werden Ihrer Meinung nach Wohnungen multifunktionaler und das Homeoffice selbstverständlich?

O. Horx-Strathern: Über das digitale Arbeiten von Zuhause haben wir lange schon vor Corona diskutiert. Durch die Krise wurden viele Menschen zum Homeoffice quasi gezwungen und mussten sich damit teilweise auf sehr kreative Weise arrangieren. Nicht jeder hat ausreichend Raum, um ungestört arbeiten zu können. Also sind wir auf Ausweichmöglichkeiten und neue Ideen angewiesen. In diesem Zusammenhang entstand die neue Wortschöpfung „Shedquarters“. Anstatt in der Abstellkammer oder dem Flur wird vom „Gartenhäuschen“ aus gearbeitet. Ich meine, die Zeit zum Homeoffice ist nun gekommen. Allerdings glaube ich, dass wir von dem ganz offenen Wohnen wieder wegkommen. Multifunktionalität lässt sich nur bedingt realisieren, weil jeder Mensch eine Privatsphäre braucht, in die er sich zurückziehen kann.

Mappe: Haben Sie einen Tipp, wie es gelingen kann, die Abgrenzung zwischen privat und beruflich zu wahren und beides trotzdem zu vereinen?

O. Horx-Strathern: Auch in kleineren Wohnungen und weniger privilegierten Wohnsituationen hat man Möglichkeiten, den Raum zu gestalten und unterstützende Rituale einzuführen. Einer der wichtigsten Schritte ist das neue Kennenlernen der vermeintlich bekannten Wohnräume. Dazu zählt der Blick in Ecken und Nischen, das Aufstöbern von Unbekanntem, das Herauskramen längst vergessener Dinge. Vielleicht findet sich im Keller ein Tisch, der sich als Arbeitsplatz im Badezimmer reaktivieren lässt. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt! Hilfreich kann auch sein, Alltagsrituale einzuführen. Wir haben beispielsweise mit Beginn der Corona-Krise angefangen, unsere Stammplätze am Esstisch aufzugeben und jeden Tag in einer anderen Konstellation zu Abend zu essen. Bei sechs Personen im Haushalt ergibt das 120 Sitzvarianten. Vielleicht ist es aber auch der Wunsch nach Entrümpelung, nach einem Aufräumprozess, der auch das Mentale umfasst.

Mappe: Mehr Zeit in unseren Wohnungen zu verbringen und nun dort auch noch zu arbeiten. Wird das die Vereinsamung von Menschen nicht zusätzlich forcieren?

O. Horx-Strathern: Das Thema Einsamkeit ist schon seit langem ein Problem. Die Krise hat das nur noch einmal sehr deutlich ins Bewusstsein gerufen. Wir sind nun einmal eine sehr individualistische Gesellschaft: In den großen Städten zählt man bis zu 50 Prozent Single-Haushalte, also Menschen, die im Grunde allein leben. Endlich wird jetzt aber das Thema offen angesprochen! Darin liegt die Chance: In Städten gewinnt Nachbarschaft an Bedeutung, wir spüren den Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit in unserem Wohnumfeld, die Sehnsucht nach einem neuen Heimatbegriff. „Vertical Village“ nennen wir diesen Trend in unserem aktuellen Wohnreport 2020. Wenn wir es richtig machen, kann uns die Krise helfen, Lösungen zu finden.

Mappe: Wie kann diese Lösung aussehen, wenn bezahlbarer Wohnraum in Städten tendenziell immer knapper und Wohnungen in der Konsequenz immer kleiner werden?

O. Horx-Strathern: „Vertical Village“, die Dorfgemeinschaft der Zukunft, gibt es in verschiedensten Formen und Größen weltweit. Dabei geht es darum, einerseits in einer Gemeinschaft zu leben – was Sicherheit gibt–, andererseits aber auch Individualität wahren zu können, die uns wichtig ist. Beispielhaft dafür ist das Wohnprojekt Wien, wo die Bewohner von 39 Wohnungen nach der Vision „gemeinschaftlich wohnen und dadurch Ressourcen sparen“ zusammenleben. Neben den Ein- bis Sechszimmer-Wohnungen gibt es Coworking Spaces, eine Bibliothek, eine Gemeinschaftsküche, Gästezimmer, Fitnessraum, Sauna, Kinderspielzimmer, Terrassen und ein Café, das auch als kleiner Lebensmittelladen dient.

Mappe: Ein Projekt, das sozialer Isolation entgegenwirken kann und ebenso wegweisend für die Integration der älteren Generation sein könnte.

O. Horx-Strathern: Ich bin immer für Diversität. Unterschiedliche Generationen können viel voneinander profitieren – gerade gehen z. B. viele Jüngere für die Älteren einkaufen. In Schweden gibt es zu diesem Thema ein interessantes Wohnprojekt: Hier dürfen nur unter 25- und über 65-Jährige einziehen – beides Altersgruppen, für die Einsamkeit ein großes Thema ist. Sie müssen zwei Stunden pro Woche gemeinsam Zeit verbringen.

Mappe: Welche abschließende „To-do-Empfehlung“ können Sie uns geben, um in den eigenen vier Wänden besser für die Zukunft gerüstet zu sein?

O. Horx-Strathern: Regnose statt Prognose. Das heißt, schmiede nicht immer Pläne für die Zukunft, sondern ebenso aus der Zukunft heraus für heute! Wie das funktioniert? Versetze dich in deine Wohnung im Jahr 2021 und arbeite von dort rückwärts: Was habe ich alles gekauft und von was habe ich mich getrennt? Wie hat sich alles verändert? Was könnte daher der nächste kleine Schritt sein?

Mappe: Oona Horx-Strathern, wir bedanken uns für das spannende Gespräch!

Zur Person: Oona Horx-Strathern

Die gebürtige Londonerin Oona Horx-Strathern ist stolze Besitzerin eines irischen Passes. Sie arbeitet als Trendforscherin, Beraterin, Rednerin und Autorin, unter anderem für das Zukunftsinstitut, das sie vor über 20 Jahren zusammen mit ihrem Mann Matthias Horx in Frankfurt und Wien gründete. Der Fokus ihrer Arbeit als Trendforscherin liegt in den Bereichen Design, Architektur, Wohnen, Bauen und Stadtentwicklung. Sie baute in Wien das »Future Evolution House«, in dem sie mit Mann, (phasenweise) mit ihren erwachsenen Kindern und mit einem ziemlich verrückten Hund namens Bubbles lebt.

Buchtipp: Der »Home Report 2020«

In ihrem kürzlich im Verlag des Zukunftsinstituts erschienen Home Report befasst sich Oona Horx-Strathern mit den Wohntrends der kommenden Dekade. Sie setzt den Fokus auf die dringlichen Fragen, Trends und Ideen, die uns zu neuen Denkmustern inspirieren: Wie die Architektur unserer Städte, unserer Gebäude, aber vor allem auch die Architektur unseres Lebens besser gestaltet werden kann. Umfang: 112 Seiten, 150 Euro inkl. MwSt. Bezug: www.zukunftsinstitut.de

Foto: manuta/Adobe Stock
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