Man kann auch anders Maler sein
Matthias Deckers sitzt in seinem Wohnzimmer am Schreibtisch, im Hintergrund zwitschern die Vögel. „Ich bin leidenschaftlicher Künstler“, sagt Matthias – oder Mattez, wie er sich nennt. Und als Künstler spricht er am liebsten über Kunst. Wie seine Kunst mit dem Malerhandwerk zusammenhängt? Man kann auch anders Maler sein. Statt mit Pinsel und Farbrolle ist er mit Spraydosen unterwegs. Als Graffitikünstler hat sich Matthias in seiner Heimat Geldern in Nordrhein-Westfalen mittlerweile einen Namen gemacht.
Das Werkzeug Sprühdose
Das Merkmal seiner Arbeit sind vor allem die bunten Farben. „Bei Spraydosen hat man Zugriff auf eine Farbpalette von etwa 200 Farbtönen. Damit muss man klarkommen.“ Mischen kann man diese nämlich nicht. Unbedingt farbig muss es jedoch nicht sein, man kann auch in Graustufen oder Sepiatönen sprayen. Die Handhabung einer Spraydose unterscheidet sich stark von der eines Pinsels: Je nach Winkel oder Abstand zur Wand verändert sich die Optik des Bildes. Oder auch wie stark man auf die Düse drückt. So bekommt man die fotorealistischen Werke an die Wand. „Gute Fingerfertigkeiten sind Voraussetzung für Graffiti“, erklärt Matthias. Was man an die Wand sprüht, bleibt dem Künstler überlassen. Die einzige Grenze ist höchstens die Fläche der Wand, meint Matthias.
Wir blicken zurück in seine Jugend: Als junger Heranwachsender konnte er es kaum erwarten, endlich die Ausbildung zu beginnen. In der Berufsschule kam dann die Ernüchterung. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen waren mit wenig Herzblut bei der Sache. „Da kamen dann so Sprüche wie ‚Beim Maurer war nichts mehr frei‘ oder ‚Wenn man nicht weiß, was man machen soll, wird man Maler‘.“ Matthias ist sich sicher, wenn angehende Maler- und Lackierer*innen mehr auf kreative Weise arbeiten könnten, wäre das nicht so. Regelmäßig gibt er Workshops in Bildungseinrichtungen oder auch Jugendhäusern, wo er den Jugendlichen das Arbeiten mit Farben näherbringen möchte. „Es ist eben nicht nur Eimer auf und streichen.“ Auch wenn Matthias heute nicht mehr als Maler- und Lackierer arbeitet, hat ihn die Leidenschaft für diesen Beruf nie verlassen.
Vom Malermeister zum Künstler
Nach der Meisterprüfung 2005 arbeitete Matthias erst im Malerbetrieb seiner Eltern mit. Anschließend übernahm er in dritter Generation den Betrieb, den sein Großvater 1933 gründete. mgd Home bot seinen Kunden professionelle Maler-, Glaser und Bodenbelagsarbeiten. Dabei stand vor allem die Planung, Gestaltung und fachkundige Umsetzung im Fokus. Matthias wollte damals den Betrieb „umkrempeln“, modernisieren, innere Abläufe und auch die Angebote ändern. So kam die Spezialisierung auf kreative Raumgestaltung. Das lief eine Weile ganz gut. „Ich denke, ich habe damals zwischen 60 und 80 Stunden pro Woche gearbeitet“, erzählt Matthias. Dann kam das Burn-out. Matthias zog die Notbremse und gab den Betrieb auf. Heute sieht er das als Wendepunkt: „So konnte ich den Weg einschlagen, den ich heute gehe.“ Die Genesung und Neufindung nahmen eine ganze Zeit in Anspruch. Zwei Jahre später startete Matthias seine neue Karriere als Graffiti- und Streetart-Künstler. Dabei kommen ihm seine Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Malerhandwerk über Untergründe und Malmaterialien sowie das Gestalten mit Farben zugute. Matthias liebt es „an der Wand zu sein“, also das wirkliche, echte Arbeiten mit dem Material. Damals, als Betriebsinhaber, verbrachte er die meiste Zeit im Büro. Als Künstler kommt er sozusagen „back to the roots“.
Graffitis haben Matthias schon in seiner Jugend fasziniert. Mit 14 bemalte er seine ersten Wände. „Was mit guter, schöner Kunst wenig zu tun hatte“, sagt er und lacht. Damals gab‘s die erste Hip-Hop-Welle in Deutschland und Matthias war mittendrin. Dass er durch seine Erkrankung zurück zum Graffiti kam, kam unverhofft: Er traf einen alten Freund, der sich als Graffiti-Künstler selbstständig gemacht hatte. „Das habe ich ihm erstmal nicht geglaubt.“ Losgelassen hat ihn der Gedanke jedoch nicht. Er nutzte die freie Zeit, um sich das nötige Können anzueignen. Der Schritt in die Selbstständigkeit kam danach. Heute lebt er von Aufträgen und den Verkäufen seiner eigenen Werke. Auch Städte und Gemeinden kamen auf ihn zu, um Stromkästen oder Tiefgarageneinfahrten verschönern zu lassen. Privatkundinnen und -kunden wollten von ihm beispielsweise Disney-Figuren im Kinderzimmer. Matthias sprayt seine Kunst aber auch einfach so auf Wände. Natürlich mit Erlaubnis. So kam das Donut-Haus in Issum zustande. Die Fassade ziert ein poppiger Zuckerguss mit bunten Streuseln. Definitiv ein Hingucker im Ort.
Die Botschaft weitertragen
In Matthias‘ Atelier, dem „Habitat 49“, arbeitet er viel an seiner Kunst. Gemeinsam mit sechs weiteren Künstlern und Künstlerinnen wird das Habitat als Rückzugsort, Werkstatt, Büro, Tonstudio und künstlerische Austauschstätte genutzt. Viele seiner Auftragswerke entstehen hier, am Tablet vorgezeichnet und anschließend im Großformat an die Wand gebracht. Matthias wird nicht müde, Graffiti weiterhin bekannt zu machen. Er organisiert „Paint On Walls“, ein jährliches StreetArt- und Graffiti-Festival, bei dem sich mehr als 20 europäische Graffiti-Künstler treffen und ein ganzes Wochenende das Festivalgelände zu einer riesigen Open-Air-Galerie gestalten. Das diesjährige Festival fand Anfang August 2022 in Geldern statt. Hier konnten auch die Kleinen mal eine Sprühdose in die Hand nehmen und sich ausprobieren. Die Message des Festivals ist zugleich auch Matthias persönliche Message: Graffitis sind keine „Schmierereien“, sie sind Wandgemälde mit Wirkung und Haltung – und vor allem sind sie Kunst.