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18. Februar 2020
Redaktion
Interview

"Kreativität braucht mehr Bildung"

Was ist das eigentlich, Kreativität? Wenn man »kreativ sein« lernen könnte, wäre es überhaupt noch dasselbe? Ein Gespräch mit dem Philosoph und Autor Christoph Quarch über unkonventionelle Aufgaben, aus denen Handwerker kreatives Potential schöpfen können, und warum Freizeit nicht unbedingt hilft, kreativ zu sein.
Foto: Ulrich Mayer

Mappe: Wann ist ein Handwerksberuf kreativ oder sind gar alle Handwerksberufe per se kreativ?
Dr. Christoph Quarch: Handwerk kann sehr kreativ sein, ist es aber nicht immer: Wenn ein Handwerker oder eine Handwerkerin bloß ausführendes Organ der Planung eines Architekten oder Ingenieurs sind, ohne dass man ihnen gestalterische Aufgaben überlässt, dann bleibt fürs Kreative kaum Spielraum. Der Extremfall dessen wäre die Tätigkeit eines Kopisten, der schlicht das wiederholt, was andere vor ihm getan haben. Mir scheint allerdings, dass solche Situationen eher selten sind. In der Realität ist es meistens so, dass jede Arbeit, jeder Auftrag seine eigenen Anforderungen an den Handwerker stellen, die seine individuelle Antwort erfordern. Grundsätzlich kann man sagen: Je unkonventioneller die Aufgabe, desto mehr Kreativität ist seitens des Handwerks gefragt.

Wie stellt sich das Verhältnis von Kreativität und Innovationen aus Ihrer Sicht dar?
Ich denke, es gibt unterschiedliche Grade der Kreativität. Selbst wenn es nur darum geht, einem Treppenhaus einen neuen Anstrich zu verpassen, ist die Kreativität des Anstreichers gefragt, der auf die konkrete Situation mit ihren Lichtverhältnissen, Nutzungsanforderungen etc. die passgenaue Antwort finden muss. Das erfordert Kreativität. Dabei kann er sich durchaus im Rahmen des Konventionellen bewegen, indem er etwa bei den Weiß- oder Beigetönen bleibt, die man üblicherweise für Treppenhäuser verwendet. Er kann aber auch innovativ sein und seinem Auftraggeber vorschlagen, das Treppenhaus in den Farben seines Firmenlogos knatschbunt zu streichen. Vielleicht ist er sogar disruptiv und sagt: „Wissen Sie was, wir streichen hier gar nichts, sondern kleben alles mit Spiegeln zu“.

Wie passen Digitalisierung, Industrie 4.0 und Kreativität zusammen?
Digitalisierung bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als dass die uns geläufige analoge Welt der Dinge in Daten übersetzt wird, die von „intelligenten“ Maschinen erfasst und verarbeitet werden können. Durch immer komplexere und raffinierte, rückgekoppelte und dadurch „lernfähige“ Algorithmen ist es möglich geworden, schwierige Operationen oder gar Entscheidungsprozesse auf Maschinen zu übertragen. Dabei aber bleibt die „Maschinenintelligenz“ immer eine Rechenoperation. Streng genommen denken intelligente Maschinen nicht, sie rechnen. Sie können damit virtuos Aufgaben lösen, die man ihnen stellt oder bereits Bestehendes nach Maßgabe ihnen mitgeteilter Kriterien optimieren, aber sie können nicht im eigentlichen Sinne kreativ sein, können nicht etwas sinnvolles Neues erschaffen. Das ist Künstlichen Intelligenzen deshalb nicht möglich, weil ihnen die Dimension des Sinns verschlossen bleibt. Sie wissen nicht, was gut und sinnvoll ist, weil ihnen, anders als uns Menschen, der Horizont des eigenen Todes fehlt.

Wenn der Mensch der Neuzeit seine Würde nicht mehr ausschließlich auf seine Ratio, seinen Verstand gründet, sondern immer mehr auch auf seine emotionale und geistig-spirituelle Entwicklung, was bedeutet das für die Zukunft der Gesellschaft, der Umwelt und der Wirtschaft?
Wenn das von Ihnen angesprochene Szenario tatsächlich Wirklichkeit wird (was ich im Augenblick noch nicht erkennen kann), dann würde es zu dem führen, was Friedrich Nietzsche eine „Umwertung aller Werte“ nannte. Dann wäre es nicht länger ein Ausweis von menschlicher Intelligenz, immer effizientere, funktionalere, smartere oder profitablere Verfahren und Techniken zu entwickeln. Nicht mehr der optimierte Mensch oder der maximierte Nutzen wären die Götter, denen alle Welt huldigt, sondern die lebendige, schöpferische und unberechenbare Natur. Wir würden unseren Erfolg nicht mehr quantitativ messen, sondern qualitativ: daran, ob unser Tun und Lassen ein Mehr an Lebendigkeit und Schönheit geschaffen hat; und ob es zur geistigen und seelischen Blüte des Menschen beiträgt – und nicht allein zu seiner materiellen Wohlstandsmehrung.

Der Philosoph und Anthropologe Frithjof Bergmann hat in den 1970er-Jahren bei General Motors in Flint, Michigan, gearbeitet. Dort kam es zu Arbeitszeitverkürzungen aufgrund der Digitalisierung. Er schlug vor, dass die Arbeiter in der frei gewordenen Zeit die Möglichkeit haben sollten, mit sehr viel Unterstützung ihre Berufung zu finden. Wäre das auch heute ein Ansatz, vielleicht auch in Richtung zu mehr Kreativität?
Ich bezweifle, dass es so etwas wie eine Berufung gibt, die man finden könne. Und ich glaube nicht, dass die Menschen, wenn man ihnen nur genug Freizeit gewährt, von sich aus kreativ werden. Dafür ist die Zerstreuungs- und Unterhaltungsindustrie im digitalen Zeitalter viel zu gut aufgestellt. Um mehr Kreativität in die Welt zu bringen, braucht es nicht mehr Freizeit, sondern mehr Bildung; Bildung verstanden als geistige Ansprache und Nahrung, die uns Menschen anregt, schöpferisch unsere individuellen Antworten zu geben. Auf diese Weise nämlich bildet sich die Identität eines Menschen: nicht, indem er seine feststehende Berufung entdeckt und verwirklicht, sondern indem er sich immer neu auf die Welt einlässt, sich ihren Ansprüchen aussetzt und durch die Antworten, die er darauf gibt, seine eigene Persönlichkeit ausbildet. Dazu braucht er Anregungen und Inspirationen, die zu geben, eine Kernaufgabe künftiger Unternehmen und Arbeitgeber sein wird.

Foto: manuta/Adobe Stock
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